Ethisch wirtschaften, um das Wohl von Mensch und Umwelt zu gewährleisten – Gerd Hofielen im Gespräch mit Alexandra Bielecke (Spektrum der Mediation)
Ein gutes Leben für alle ist das oberste Ziel der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Die Bewegung, die vor rund zehn Jahren in Österreich entstand und inzwischen Mitglieder in ganz Europa und anderen Teilen der Welt hat, möchte ein neues Wirtschaftsmodell etablieren, in dem Unternehmen auf der Basis eines werteorientierten Geschäftsmodells agieren, das Menschenwürde, Solidarität, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit garantiert. Der GWÖ-Berater Gerd Hofielen, ein international erfahrener Managementexperte, erläutert hier, wie der Systemwandel funktionieren kann.
Spektrum der Mediation (SdM): Wie sind Sie zur Gemeinwohl-Ökonomie gekommen?
Gerd Hofielen (GH): Ich bin Betriebswirt und Psychologe und habe mich jahrzehntelang mit Unternehmenskultur befasst. Mich hat es stets gestört, dass die kapitalistische Unternehmenslogik Menschen stark unter Druck setzt. Ständig geht es darum, Kosten zu sparen. Aus meiner Sicht ist das völlig unnötig, da die meisten Unternehmen genug Geld haben, um für Puffer zu sorgen, jedenfalls die Konzerne, von denen der Druck ausgeht. Vor ungefähr zehn Jahren habe ich bei mir den Schalter umgekippt und entschieden, nur noch für werteorientierte Unternehmen zu arbeiten. Bald danach habe ich mich der Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie angeschlossen. Ich unterstütze ihre Prinzipien auch in meiner Tätigkeit als Geschäftsführer bei Humanistic Management Practices, einem Thinktank für humanistisches Wirtschaften.
SdM: Was versteht man denn unter Gemeinwohl-Ökonomie?
GH: Unser Ansatz besagt, dass Unternehmen werteorientiert wirtschaften sollten. Die Werte, an denen wir uns orientieren, basieren unter anderem auf der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und auf demokratischen Verfassungen, die Menschenwürde, Sozialpflichtigkeit des Eigentums und Schutz der Natur verbindlich machen. Auf dieser Basis haben wir eine Matrix entwickelt, die beleuchtet, was solche Werte in Bezug auf die Akteur*innen in der Wertschöpfungskette bedeuten. Angesichts der Klimakrise, des Artenverlusts und der weltweit zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich wird immer deutlicher, dass das bestehende Wirtschaftssystem ruinös ist.
SdM: Was sind Ihre Ziele?
GH: Die GWÖ will Unternehmen verpflichten, transparent zu berichten, wie sie arbeiten, welche Ressourcen sie beanspruchen und welche Wertschöpfung sie den Stakeholdern als Ausgleich anbieten. Die Ergebnisse müssen bewertet werden, damit wir Unternehmen vergleichen können und verlässliche Daten bekommen. Zudem wollen wir erreichen, dass Unternehmen mit einer guten Gemeinwohl-Bilanz finanzielle Vorteile bei der öffentlichen Beschaffung, verbilligte Darlehen und günstige Forschungsmöglichkeiten erhalten. Das wäre dann auch ein Anreiz für diejenigen, die sich ansonsten nicht um Nachhaltigkeit kümmern. Die meisten Unternehmer*innen sagen ja leider nach wie vor: »Ich muss mich im Konkurrenzkampf schlagen und kann keine Rücksicht auf Natur, Menschenwürde oder gerechte Bezahlungssysteme nehmen.« Dieses Scheuklappendenken führt bei den großen Konzernen dazu, dass sie ausgeklügelte Systeme einsetzen, um die eigenen Gewinne und die finanziellen Vorteile der Shareholder zu maximieren. Deshalb brauchen wir zunächst einmal eine Koalition der Willigen, die vorführt, wie man werteorientiert arbeiten und dabei durchaus prosperieren kann.
SdM: Unternehmen, die sich verbessern oder einen neuen Kurs einschlagen möchten, können sich bei Ihnen einem Prüfprozess unterziehen. Wie verläuft dieser?
GH: Wenn eines der willigen Unternehmen wissen möchte, wie es mit seinem Geschäftsmodell aus einer gesellschaftlichen Perspektive abschneidet, lädt es sich aus dem Internet das Arbeitsbuch der GWÖ herunter. Darin wird eine Reihe von Fragen zu den 20 Matrixthemen gestellt. Falls das Unternehmen nicht über die Fachkompetenz zur eigenständigen Beantwortung verfügt, kann es sich von Gemeinwohl-Beratenden helfen lassen. Dabei entsteht eine umfassende ethische Bewertung, für die wir ein Punktesystem entwickelt haben, das im Rahmen eines Stufenmodells funktioniert. Wenn es etwa um die Menschenwürde in der Lieferkette geht, stellen wir beispielsweise Fragen wie: Was weißt du über deine Lieferant*innen? Besuchst du sie oder machst du nur Online-Abfragen? Was weißt du über die Bezahlung und die sonstigen Konditionen der Mitarbeitenden? Je mehr positive Details jemand angeben kann und je höher die Anzahl der Einkäufe bei nachhaltig ausgerichteten Lieferant*innen ist, desto mehr Punkte werden vergeben. Natürlich müssen alle Angaben belegt werden. Pro Thema lassen sich 50 Punkte erzielen, maximal kommt man also auf 1.000 Punkte. Nachdem der Gemeinwohl-Bericht eingereicht wurde, entscheidet das Auditteam, wer das betreffende Unternehmen bewertet. Je nach Firmengröße machen die Zuständigen ein Desk- oder ein Besuchs-Audit. Kein Unternehmen muss gleich bei 700 oder 800 Punkten landen, sondern es ist wichtig, in einen Prozess einzutreten. Unternehmen, die nur hundert Punkte haben, sind schon auf einem guten Weg. Wir legen Wert darauf, dass sie nach etwa zwei Jahren eine neue Bilanz anfertigen, um zu sehen, ob sie sich wunschgemäß weiterentwickelt haben.
SdM: Wird die Gemeinwohl-Bilanz offiziell, sobald sie auditiert ist?
GH: Ja, mit der Einreichung eines Berichts zum Audit verpflichtet man sich, das Ergebnis für eine Veröffentlichung auf den Webseiten der GWÖ zur Verfügung zu stellen. Wir setzen auf die Kraft der Transparenz. Dagegen sind die üblichen Nachhaltigkeitsberichte der Großkonzerne Bücher mit sieben Siegeln. Sie enthalten einen Haufen von Daten, die man erst richtig versteht, wenn man sich wochenlang mit großer Sachkunde damit auseinandersetzt. Hingegen fassen wir das Resultat eines Audits in einem Testat auf einer DIN-A4-Seite zusammen. Jede*r, der*die mehr Details wissen will, kann dann tiefer in den Bericht einsteigen.
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SdM: Vergeben Sie so etwas wie Qualitätssiegel?
GH: Ein Unternehmen, das eine Bilanz bei uns durchführt, darf die Bezeichnung »gemeinwohl-bilanziertes Unternehmen« verwenden. Wir sind gerade dabei, ein Label zu entwickeln, das Unternehmen auf ihren Produkten, Webseiten und Briefpapieren abbilden können. Wohlgemerkt handelt es sich dabei aber nicht um ein Produkt-, sondern ein Unternehmenslabel. Über einzelne Erzeugnisse können wir nichts aussagen – auch verantwortlich agierende Firmen können mal fehlerhafte oder schlechte Waren auf den Markt bringen.
SdM: Wettbewerb hat aus Ihrer Sicht meist negative Folgen, aber es wäre doch durchaus sinnvoll, wenn Firmen im Hinblick auf die Anzahl der Punkte miteinander in Konkurrenz träten, oder?
GH: Es spricht nichts gegen solch eine Art von Wettbewerb. Gleichzeitig ist aber Folgendes zu berücksichtigen: Um viele Punkte bei der Gemeinwohlanalyse zu erreichen, braucht ein Unternehmen ein Unterstützungssystem. So etwas gibt es bereits in der Ökobranche. Ein Biobrotbäcker kooperiert mit Bioanbaubetrieben und Lieferant*innen, die sich Bioland oder Demeter angeschlossen haben. Solch ein Unternehmen erreicht eine Gemeinwohl-Bilanz von 500 oder mehr Punkten. Hingegen kann eine Handwerkerin, die Stahlzäune herstellt, gar nicht mehr als 300 Punkte erlangen, weil sie nicht weiß, woher ihr Stahl kommt. Mit absoluter Sicherheit wurde der Stahl ökologisch ruinös hergestellt und die Menschenwürde hat bei der Gewinnung sicherlich keine große Rolle gespielt. Um Veränderungen zu bewirken, die zu besseren Bilanzen führen, müssen Unternehmen branchenbezogen zusammenarbeiten. Nur so kann eine nachhaltige Produktionsweise entstehen. Dies kann dann im nächsten Schritt mit einem konstruktiven Wettbewerb um die Anzahl der Gemeinwohlpunkte einhergehen.
SdM: Kann man mit einer guten Ökobilanz Defizite in anderen Bereichen ausgleichen?
GH: Nein. Nehmen wir mal das Beispiel einer Genossenschaft, die Windenergie produziert. Für ihr Produkt, ihren Produktionsprozess und ihren ökologischen Fußabdruck erhält sie eine gute Punktzahl. Es werden aber noch viele andere Aspekte analysiert, bei denen sie vielleicht schlecht abschneidet, etwa wenn sie Schlupflöcher des Steuersystems nutzt. Da unsere Matrix themenspezifisch aufgebaut ist, lässt sich differenziert aufzeigen, in welchen Bereichen die Genossenschaft gut oder schlecht abschneidet. Ein Ausgleich von Defiziten ist in der Bilanz also nicht möglich, weil alles im Detail ausgewiesen wird.
SdM: Sie erwähnten eingangs, dass Sie die Unterstützung des Gesetzgebers benötigen, um mehr Schlagkraft zu entwickeln. Was tun Sie, um das zu erreichen?
GH: Je niedriger die politische Ebene, desto besser kommen wir an. In Österreich, wo unsere Bewegung startete, gibt es schon einige Gemeinwohl-Gemeinden. In Deutschland sind bereits einige gefolgt. Auf Bundesebene werden wir aber von den meisten Parteien ausgebremst. Ausnahmen sind die Grünen und die ÖDP. 2015 haben wir unser Modell dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vorgestellt. Das ist ein Gremium der EU, das Ideen aus der Bürgergesellschaft aufnimmt. Bei einer Abstimmung haben rund 80% der EWSA-Mitglieder entschieden, die GWÖ solle in die Gesetzgebung der EU einfließen. Dieses Gremium hat zwar wenig Macht, aber immerhin zeigt das Ergebnis, dass wir auf EU-Ebene registriert und verstanden werden.
SdM: Sie müssen also viel Überzeugungs- und Lobbyarbeit leisten.
GH: Ja, das ist notwendig. Da wir jedoch eine Bewegung sind, die sich aus Mitgliedsbeiträgen von Unternehmen und normalen Bürger*innen finanziert, haben wir leider nicht die Ressourcen für eine richtig solide Lobbyarbeit.
SdM: Zahlen die Unternehmen für die Audits?
GH: Ja, dafür gibt es Standardpreise. Bei Großunternehmen erstellen wir spezielle Angebote. Wir bieten ja professionelle Leistungen, die sich andere Anbieter, die Beurteilungen abgeben, auch bezahlen lassen. Wenn Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz beauftragen, bitten wir sie zudem, Mitglied zu werden, als eine Art Lizenz für das Gedankengut.
SdM: Wer hat Ihr Siegel denn schon? Darüber dürfen Sie ja sprechen, weil Sie die Audits auf Ihrer Webseite veröffentlichen.
GH: Zu den Unternehmen, die gut abschneiden, gehören unter anderem der Outdoor-Ausstatter Vaude und Elobau, ein Unternehmen, das nachhaltige Lösungen für Bereiche wie Maschinensicherheit und Sensorik anbietet. Positive Bilanzen werden auch in der Bionahrungsmittelindustrie erzielt. In Berlin sind beispielsweise das Märkische Landbrot und Ökofrost gut aufgestellt. Das Gleiche gilt für die Internet-Suchmaschine Ecosia. Inzwischen wendet sich ein repräsentativer Querschnitt der deutschen Wirtschaft an uns. Lediglich die großen Konzerne tun das noch nicht, doch das wird sich bestimmt ändern. Etwa planen die Grünen, im Fall einer Regierungsbeteiligung eine Gemeinwohl-Bilanz der Deutschen Bahn erstellen zu lassen. Es wäre eine schöne Aufgabe, ein staatliches Unternehmen von beachtlicher Größe unter die Lupe zu nehmen.
SdM: Ihre Bewegung besteht erst seit zehn Jahren und Sie haben schon sehr viel bewirkt.
GH: Das finde ich auch. Mehrere tausend Unternehmen unterstützen die GWÖ inzwischen und rund 1.000 haben bereits eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt. Wir sind zuversichtlich, dass wir uns weiter etablieren werden, denn unser Weg ist eine Transformationsbrücke zur Nachhaltigkeit.
SdM: Lieber Herr Hofielen, haben Sie vielen Dank für Ihren Einblick in Ihre Arbeit. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und uns allen Unternehmen, die Ihr Angebot wahrnehmen.
Alexandra Bielecke
M.A., ist Diplom-Psychologin, Prozessbegleitung/Changemanagement, Mediatorin BM®, Ausbilderin und Supervisorin sowie 1. Vorsitzende des Bundesverbands MEDIATION.
E-Mail: alexandra.bielecke@bmev.de